Wie kann man etwas wissen und es doch nicht wahr haben wollen?
Viele Kinder glauben ab einem bestimmten Alter nicht mehr wirklich an den Osterhasen und den Weihnachtsmann. Aber sie versuchen gerne sich die Illusion so lange wie möglich zu erhalten. Groß ist dann die Enttäuschung wenn einem ältere Kinder oder Erwachsene erklären, es gäbe den Weihnachtsmann nicht wirklich. Erstaunlich auch, wie schnell man dann doch darüber weg kommt.
Als mein Vater starb, habe ich gesehen was passiert war. Irgendwie gelang es mir aber diese Wahrheit zu verdrängen, lange lebte ich mit der offiziellen Geschichte die uns Kindern, und allen die danach fragten, erzählt wurde: Unser Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Traurig genug - aber eben nicht die ganze Wahrheit.
Meine Mutter hat sich sicher gedacht uns Kinder schützen zu müssen. Wie sollten wir Kinder auch verstehen, warum unser Vater sich umbrachte?
Ich habe bestimmt zehn Jahre jedem der fragte die Geschichte vom Herzinfarkt mit Überzeugung erzählt, auch wenn ich zunehmend begann, selber daran zu zweifeln. Wie konnte man nach einem Herzinfarkt noch aufrecht stehen? An soviel konnte ich mich dann doch erinnern. Mein Bruder erinnerte sich an das Messer, welches er für unsere Mutter aus der Küche holen musste.
Wir sprachen in der Familie nicht darüber, unser Vater war einfach nicht da. Mutter hatte genug damit zu tun, uns alle durchzubringen.
Mit etwa 15 - 16 Jahren wurden die Zweifel immer stärker, ein zeitlang unterhielten mein Bruder und ich, manchmal auch mit den kleineren Schwestern, uns über die Sache. Mit einem befreundeten Studenten der Theologie redeten wir darüber. Er war ein Freund der Familie und sprach wohl unsere Mutter darauf an, dass sie uns jetzt die Wahrheit sagen müsste.
Also wurden wir vier Kinder zusammengeholt und man erzählte uns die wirkliche Todesursache. Einen Grund für den Selbstmord konnte uns unsere Mutter damals nicht nennen. Sie selbst hatte keinen Grund gefunden, keinen Abschiedsbrief oder einen anderen Hinweis. Aus ihrer Erinnerung deutete sich auch nichts an, es war bis zu seiner Tat nicht erkennbar, was in seinem Kopf vor ging.
Meine Mutter macht sich bis heute Gedanken über die Grunde, ihre Seele leidet auch heute noch darunter.
Obwohl ich jetzt offiziell vom Selbstmord meines Vaters wusste, habe ich es jahrelang nicht erzählt. Ich hielt selbst jetzt noch in vielen Situationen an der Herzinfarkt-Variante fest. Die Scham über den Selbstmord des Vaters war einfach zu gross, nur wenigen Menschen konnte ich davon erzählen.
Als ich Anfang dreissig war, ging gerade die Beziehung mit der Mutter meiner Tochter in die Brüche. Als Rettungsversuch gingen wir zu einer Beratunsstelle für Paare mit Kindern in Krisensituationen. Für mich eine ungewöhnliche Situation, ich konnte mir garnicht so recht vorstellen wie der Therapeut uns helfen sollte.
Im Laufe der Sitzungen ging es eigentlich immer weniger um die aktuellen Probleme sondern der Therapeut fragte uns immer öfter nach Dingen aus unser Kindheit, wie wir unsere Eltern erlebt hätten, schliesslich forderte uns beide auf ein Bild zu malen von uns selbst.
Was malt man alles auf solch ein Bild? Ein einfaches Selbstportrait sicher nicht. Ich malte mich stehen in der Mitte des Bildes mit ausgebreiteten Armen, in Blickrichtung all die Dinge die ich mag und die mir wichtig waren, hinter mir die Dinge aus meiner Vergangenheit welche ich im Wortsinn auch hinter mir lassen wollte. Jedes Themenfeld drückte ich mit einem kleinen Bildchen aus.
In der nächsten Sitzung wollte ich mein Bild vorstellen, natürlich hauptsächlich die Dinge die ich positiv, nach vorne schauend, empfand. Aber der Therapeut lies sich nicht davon ablenken, er falte das Blatt in der Mitte und so konnte man nur noch sehen, was ich hinter mir lassen wollte. Er fragte konkret nach "was ist denn damit gemeint" und zeigte mit dem Finger auf ein Bildchen. Es war über den Selbstmord meines Vaters.
Ich erzählte, was ich damit ausdrücken wollte und wie ich den Tod meines Vaters in Erinnerung hatte und das wir bis heute nicht wussten wieso er sich umgebracht hatte. Den genauen Gesprächsverlauf erinnere ich nicht, aber er sagte sowas wie: "Es ist gut, dass sie trotz dieses Ereignisses ein so normales Leben führen, viele Menschen wären daran zerbrochen". Für mich war das zunächst befremdlich. Warum sollte ich daran zerbrechen wenn mein Vater eintscheidet so aus dem Leben zu gehe?
Einige Tage später bin ich dienstlich mit dem Wagen unterwegs gewesen als mich plötzlich, wie eine gewaltige Welle, all die jahrelang verdrängen Gefühle einholten. Ich musst am Strassenrand anhalten und konnte bestimmt eine Stunde nicht weiterfahren.
Zum ersten mal konnte ich trauern um meinen Vater, wir hatten als Kind nie Abschied nehmen können von ihm, das ganze Thema war einfach Tabu gewesen. Jetzt spürte ich auch Wut darüber, dass er uns als seine Kinder einfach verlassen hat, zurückgelassen hatte. Er war nicht bei uns gewesen als wir in die Schule kamen, als wir ihn brauchten, seine Hilfe oder seinen Rat, er war kein Vorbild zum dem die Kinder aufschauten wenn sie klein sind und an dem sie sich abarbeiten wenn sie grösser werden.
In diesen Tagen ging ich innerlich durch die Hölle, aber als ich durch war, kam ich mir vor, als wenn ich nach einem anstrengenden Bergaufstieg am Gipfel angekommen bin, die Aussicht geniese und die frische Luft atmen kann.
Seit dieser Zeit kann ich offen über den Selbstmord meines Vaters reden, nicht mit jedem aber mit deutlich mehr Menschen als früher. Und es hat nochmal mehr als zehn Jahre gedauert bis ich anfing über sein Leben nachzudenken und begann Nachforschungen anzustellen. Vierzig Jahre nach seinem Tod ist vieles nicht mehr zu erfahren, manches wird wohl ewig im dunkeln bleiben.
Diese Blog ist auch ein Versuch damit umzugehen,
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!