Freitag, 3. Dezember 2010

Das unentdeckte Leben meines Vaters

„Dein Vater war schwul und ging hinter dem Bahnhof auf den Strich.“

Mehr als vierzig Jahre habe ich gebraucht um diesen Satz aufzuschreiben. Diese vierzig Jahre, seit dem Tod meines Vaters, waren in ihren verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich für mich. In den ersten 10 Jahren wusste ich nicht einmal die Wahrheit über den Tod meines Vaters. Ich bin mit einer Lüge über die genauen Umstände seines Todes aufgewachsen. Dies alles geschah natürlich in der besten Absicht und war gut gemeint. Man wollte mich und meine jüngeren Geschwister schützen vor der Wahrheit. Der Tod unseres Vaters war nicht schon schlimm genug, auch noch zu wissen wie er sein Leben verloren hat, so meinte man damals, würde uns Kinder noch mehr belasten.
Da ich damals erst fünf Jahre alt war, meine drei Geschwister noch jünger, kann ich diese Haltung auch heute noch nachvollziehen. Auch wenn es, wie so vieles im Leben, eben nur 'gut gemeint' und daher nicht wirklich gut für uns war.
Es ist letztlich durch uns Kinder und unser gemeinsames Erinnern an den Todestag unseres Vaters, das Austauschen von Erinnerungen an diesen Tag, welche, wenn man sie alle zusammen fügte, nicht mit der offiziellen Version, dem was man uns so lange erzählt hatte, zusammenpasste. Dabei hatten wir sie selber jahrelang, immer dann, wenn nach unserem Vater gefragt wurde bereitwillig wiedergegeben.
Als wir Kinder uns also sicher waren, dass diese Geschichte über den Tod unseres Vaters nicht stimmen konnte, haben wir angefangen Fragen zu stellen und Antworten erwartet. Es stellte sich schnell heraus, dass scheinbar alle Erwachsenen um uns herum die Wahrheit kannten, nur wir Kinder nicht. Schließlich rief uns unsere Mutter zusammen um uns die Wahrheit über den Tod unseres Vaters zu erzählen und plötzlich wurden viele  Dinge für mich verständlich und ich konnte sie richtig einordnen. Inzwischen waren fast 10 Jahre seit seinem Tod vergangen und für mich war es, mitten in der Pubertät, ein Schock die Wahrheit zu erfahren. Obwohl ich das damals alles damals natürlich nicht sofort gemerkt habe. Im Vordergrund stand für mich eher das Gefühl, dass wir Kinder doch recht hatten mit unseren Vermutungen und dass wir von den Erwachsenen belogen worden waren.
Aber auch wenn wir nun genauer wussten WIE er an jenem Sonntag im Oktober 1969 gestorben war, über das WARUM hatte man uns nichts gesagt. Meine Mutter beteuert bis heute die Gründe nicht zu kennen, ob es wirklich stimmt oder ob es immer noch ein Schutz ist, kann ich nicht sagen. Inzwischen ist meine Mutter fast achtzig Jahre alt und zunehmend dement. Es macht auch keinen Sinn mehr, sie mit Fragen zu bedrängen.
Irgendwie hätte ich das alles hier früher anfangen müssen, die Nachforschungen, die Fragen, die Unruhe hätte mich mindestens zwanzig Jahre früher ergreifen müssen. Aber es ging nicht eher, ich habe einfach so lange gebraucht um mich auf den Weg zu machen und um mehr zu über meinen Vater zu erfahren. Wenn ich so zurück schaue bestand mein Vater zum größten Teil in meiner Erinnerung nur aus seinem Tod. Alle anderen Erinnerungen an ihn verblassten angesichts dieses Tages, es waren auch zu wenige Dinge an die ich mich wirklich noch erinnern konnte.
- Die Fahrt mit dem Ausflugsdampfer auf dem Dortmund-Ems-Kanal zum Märchenwald nach Ibbenbüren, wir Jungs, mein Bruder Armin und ich, in kurzen Hosen auf dem Deck des Schiffs mitten in der Sonne, unser Vater packt mit uns das Frühstück aus dem Rucksack aus. Hart gekochte Eier mit brauner Schale, wir schälen die Eier und streuen Salz aus sehr kleinen Salzsteuern drauf und essen voller Genuss jeder ein Ei.
- Mit Vater im Freibad Stapelskotten in Münster, zum ersten mal im tiefen Wasser. Ich ängstlich am Beckenrand entlang watend immer wieder sicheren halt suchend, mich festhaltend, mein Vater am Beckenrand oben stehend, mich ermutigend und gleichzeitig eine Kamera in der Hand um diesen Moment in Bildern für die Ewigkeit festzuhalten.
Es sind kurze Momente wie diese, die mir in Erinnerung geblieben sind, zu wenige um behaupten zu können, ich habe meinen Vater gekannt, aber genügend um zu wissen, dass dieser eine Satz, der dort oben am Beginn des Blogs steht, nicht stimmen konnte.
Ich weiß bis heute nicht wieso er trotzdem uns Kindern immer wieder erzählt wurde, wieso wir ihn sogar geglaubt haben, selbst mein Bruder hat, nachdem er vor einigen Jahren versuchte etwas mehr Licht in das Leben unseres Vaters zu bringen, nach kurzer Zeit resigniert und gemeint, nach all den Jahren würde man wohl nichts mehr in Erfahrung bringen und so müsste dieser Satz dann doch wohl stimmen.
Ich habe mich zunächst damit abgefunden, auch wenn ich es nicht wahr haben wollte.
Erst die Hochzeit mit meiner Frau und unsere Hochzeitsreise nach Vietnam, dazu die Kontaktaufnahme durch meinen Cousin, der sich nach fast 35 Jahren des Schweigens bei mir meldete, haben in mir den Wunsch ausgelöst endlich die Wahrheit zu erfahren.
Es zu bestätigen oder es endlich widerlegen zu können. Wer war mein Vater wirklich, welches Leben hat er geführt und warum hat er diese und jeden Entscheidung getroffen? Welches Schicksal hat ihn dazu gebracht seinem Leben selbst ein Ende zu setzen?
Ich habe die wenigen Fäden in die Vergangenheit damals aufgenommen und angefangen sie zu verfolgen, zu entwirren und neu zusammen zu fügen.
Schnell zeigte sich, dass das Leben meines Vaters ganz anders war als ich bislang ahnte und sich noch mehr von dem unterschied was uns vier Geschwistern immer erzählt wurde.
Viele Menschen denen ich von den Fortschritten meiner Nachforschungen, den Entdeckungen und meiner Motivation erzählte, haben mir geraten dies aufzuschreiben und die Geschichte zu erzählen.
Also sitze ich heute vor meinem Laptop und fange an, mit Tränen in den Augen, die Geschichte so zu erzählen wie sie sich zugetragen hat, dort wo ich keine genaueren Erkenntnisse habe, erzähle ich sie so, wie sie für mich am meisten Sinn macht und sie sich zugetragen haben könnte.
Während ich diese Zeilen schreibe kenne ich das Ende der Geschichte noch nicht, aber das soll mich nicht aufhalten den Anfang aufzuschreiben.
Ich möchte den Menschen vom Leben meines Vaters erzählen, von seiner Kindheit bis zu seinem Tod. Er soll dabei für mich Gestalt annehmen und zu einem tatsächlichen Menschen werden.
Die Stationen seines Lebens sind dabei ungewöhnlich und gleichzeitig so passend für die Zeit in der er gelebt hat.
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