Ich brauch mir nicht nur vorzustellen, was es heisst, Mutter oder Vater durch einen frühen Tod zu verlieren. Meine beiden Eltern teilen auf tragische, aber unterschiedliche Weise, das gleiche Schicksal mit mir.
Da ich mich nur noch in kleinen Erinnerungsfetzen an das Leben mit meinem Vater erinnere, kann ich nicht genau beschreiben, was dadurch in meiner Kindheit anders gewesen ist.
Mein Vater war einfach nicht mehr da, alles wurde über meine Mutter alleine organisiert. Sie war unsere wichtigste Bezugsperson. Natürlich gab es um uns herum viele Väter in den Familien. Damals war der allein erziehende Elternteil eher die Ausnahme.
Am deutlichsten ist mir in Erinnerung welche materiellen Auswirkungen der fehlende Vater hatte. Mit vier kleinen Kindern und einer schlechten Berufsausbildung konnte meine Mutter nur schwierig am Erwerbsleben teilnehmen. Und wenn sie dies tat, waren wir Kinder oft auf uns alleine gestellt. Geld war trotzdem immer knapp und ich erinnere mich noch an Mitarbeiter des Sozialamts, die in Schränke schauten, ob wir denn wirklich einen neuen Wintermantel brauchten.
An zwei Dinge erinnere ich mich aus der Zeit in Coerde (1972 - 1977) ganz besonders:
Wir vier Kinder hatten damals wie selbstverständlich einen Teil der anfallenden Hausarbeit zu übernehmen, da unsere Mutter ja arbeiten ging. Wir teilten die Hausarbeit im wöchentlichen Wechsel auf. Die Küchenwoche war immer die schlimmste von allen, weil hier die meiste Arbeit anfiel. Der Wohnungsflur dageben war relativ angenehm.
Da unsere Mutter oft nicht zuhause war, mussten wir u.a. auch Einkäufe erledigen. Mit der Bäckerei in Coerde (Die erste Filiale von Schrunz) hatte meine Mutter deshalb vereinbart, dass wir gekauftes Brot 'anschreiben' lassen konnten. Am Ende des Monats zahlte Mutter dann die lange Liste auf einmal. Wir Kinder hatten schnell raus, dass man auch eine Rumkugel, Makrone u.s.w. anschreiben lassen konnte und so sammelten sich zahlreiche Kleinbeträge im Laufe des Monats an. Meine Mutter hat es nie geschafft dies zu unterbinden.
Grössere Klassenfahrten stellten für unsere Mutter immer eine nicht leistbare Herausforderung dar. Als meine Mitschüler in der 8. oder 9. Klasse eine einwöchige Fahrt in die Eifel machten, blieb ich in der Parallelklasse zurück.
Es gibt noch viele Dinge aus meiner Jugend die es wert sind, erzählt zu werden. In Summe denke ich, dass all diese Erfahrungen, ob bewusst erinnert oder nur im Hintergrund vorhanden, mich mit zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin.
Heute bin ich ein 'getrennter Vater'; meine Tochter lebt seit nun dreizehn Jahren bei ihrer Mutter. Auch nach der Trennung war mir der regelmäßige Kontakt zu meiner Tochter wichtig. Mit der Entscheidung, mich von ihrer Mutter zu trennen, habe ich ihr auch ein Stück Vater genommen. Dieses Gefühl ist die schlimmste Wunde, die ich mir damals zugefügt habe. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste mich entscheiden, was ich will und was ich nicht mehr will. Auf keinen Fall hätte ich die Situation, so wie sie war, länger ausgehalten. Mit den Konsequenzen der Entscheidung muß ich mich bis heute beschäftigen.