Sonntag, 12. Dezember 2010

Auch Mütter haben Väter

Die enorme Lebensleistung meiner Mutter Ilse ist mir lange nicht bewusst gewesen. Sicher auch weil in den üblichen Massstäben unserer Gesellschaft, nicht jeder dies als eine Leistung im klassischen Sinne bezeichnen würde.
Heut weiss ich zu beurteilen was meine Mutter alles aushalten musste und ich verstehe die Gefühle welche sie durchlebt hat ein wenig mehr.
Die Familie meiner Mutter kommt aus Pommern, genauer aus Schlennin bei Belgard. Sie wurde im Mai 1932 als uneheliches Kind von Martha Eggert und Friedrich Machenthum geboren.
Ilse Eggert - ca. 1 Jahr alt

Die Familie meiner Mutter arbeitete auf einem Gutshof derer von Heydebreck. Traditonell wurde in diesem Gebiet Kartoffeln angebaut. Ihr Vater hat ihre Mutter nicht geheiratet. Er selber war eine Art wandernder Landarbeiter. Später ging er in die Kreisstadt Köslin und gründete dort eine Familie. Das wird an einer anderen Stelle der Geschichte noch interessant werden.
Als meine Mutter zwei Jahre alt war, heiratete ihre Mutter Martha den Landarbeiter Erich Trettin.
Bauernhochzeit Martha Eggert und Erich Trettin 1934, meine Mutter ist das Kind in der 1. Reihe 4. v. rechts

Mit ihm bekam sie noch zwei Kinder: Helga und Willi.
Meine Mutter ist viel bei den Eltern ihrer Mutter aufgewachsen, ihre Oma Bertha wird sich wohl hauptsächlich um sie gekümmert haben. Auf alten Fotos erkennt man die einfachen Lebensverhältnisse in denen damals gelebt wurde. Das Leben bestand zum grossen Teil aus der Arbeit auf dem Gutshof und der Arbeit auf dem eigenen Lehen um die Familien durch zu bringen. Zur Schule ging meine Mutter in den nächsten grösseren Ort Neu Buckow.
1939 begann der Krieg und das Leben änderte sich radikal. Nach den anfänglichen Siegesmeldungen an alle Fronten, erkennt man auf den alten Fotos zunehmend auch Männer in Soldatenuniform. Die Front brauchte ständig Nachschub.

von rechts: meine Mutter Ilse, ihre Mutter Martha, Onkel Paul mit seiner Frau Frieda. ca. 1944
Von den Brüdern meiner Oma sind fast alle im Krieg gefallen. Auch ihr Stiefvater wurde als Soldat eingezogen und nach Norwegen geschickt. Er überlebte zwar den Krieg, sollte seine Heimat aber nie wieder sehen.
Im März 1945 war die Rote Armee schon bis an das Dorf Schlennin herangekommen. Die Dorfbewohner versuchten Richtung Westen zu fliehen, wurden aber schon nach kurzer Zeit von der Roten Armee überrollt und zurück in ihr Dorf geschickt. Meine Mutter Ilse war damals erst 12 Jahre alt. Ihre Mutter starb kurz danach an einer Lungenentzündung und fehlender medizinischer Versorgung.
Ab September 1945 wurden die Deutschen dann vertrieben. Meine Mutter gelangte mit ihren Grosseltern und ihren beiden Geschwistern bis nach Halberstadt und dort blieben sie einige Zeit in einem Flüchtlingslager.
Ihr Stiefvater gelangte aus Norwegen zurück nach Norddeutschland in die Nähe von Leer/Ostfriesland. Von hier aus schickte er nach seinen beiden leiblichen Kindern die noch immer im Flüchtingslager bei Halberstadt lebten. Aber die beiden kleinen Geschwister wollten nicht ohne ihre grosse Schwester gehen und so durfte sie doch mitkommen. Für meine Mutter muss dies eine weitere Enttäuschung gewesen sein, dass der Stiefvater sie einfach so zurücklassen wollte.
In Ostfriesland arbeitete meine Mutter zunächst auf einem Bauernhof um zu überleben, später ging sie nach Wuppertal weil man dort eine Art Ausbildung zur Krankenpflegerin machen konnte. Man bedenke, dass meine Mutter mit 13 Jahren die Schule verlassen musste.
Wahrscheinlich ist sie Anfang der 50er Jahre dann von Wuppertal nach Münster gegangen. Sie hatte erfahren, dass ihr leiblicher Vater jetzt hier lebte. Er hatte in Köslin eine Familie gegründet und diese bestand inzwischen aus 5 Kindern. Die Ehefrau Gertrud nahm meine Mutter herzlich auf und sie wurde für uns Jahre später zur besagten "Oma Stehrweg", obwohl sie mit uns nicht verwandt war.
Gertrud und Friedrich Mackenthum (Opa)

Wer dachte, jetzt hätte meine Mutter ihre Familie endlich gefunden hat sich zu früh gefreut.
Ihr Vater, Friedrich Mackenthum, verlies in den 50er Jahren auch seine zweite Familie. Seine Frau und sechs Kinder lies er sitzen und ging in die DDR, nicht aus politischer Überzeugung sondern um sich möglichen Unterhaltsverpflichtungen zu entziehen.
Jetzt stand meine Mutter also wieder ohne Vater da. Aber das gute Verhältnis zur Stiefmutter blieb zeitlebens erhalten, und die fünf Halbgeschwister waren für uns wie selbstverständlich unsere Onkel und Tanten.
Meine Mutter hat 1960 einen deutlich älteren Mann geheiratet. Die Ehe wurde nach zwei Jahren geschieden und Ende 1962 / Anfang 1963 lernte sie meinen Vater kennen, der gerade aus Vietnam zurück gekommen war.
Besonders bei der Mutter meines Vaters hatte sie es wohl schwer, anerkannt zu werden.
Die beiden heirateten am 10. März 1964

Das glückliche Paar mit den Trauzeugen

und schon zwei Wochen später wurde ich geboren. Das war wirklich knapp!
Nach dem Tod unseres Vaters wurde es für unsere Mutter sehr schwer. Vier Kinder gross ziehen ist keine leichte Aufgabe. Ich erinnere mich an so manche Entbehrung in unserer Kindheit. Unsere Mutter hat eigentlich immer gearbeitet, meistens gering bezahlte, einfache Tätigkeiten. Nach dem Tod unseres Vaters hat es einige Versuche unserer Mutter gegeben eine neue Beziehung einzugehen. Oft scheiterten sie an der grossen Kinderzahl im Hintergrund. Als ich und auch mein Bruder in die Pubertät kamen, meinte meine Mutter, es wäre Zeit, wieder einen Vater für uns zu finden damit wir nicht auf die schiefe Bahn kämen. Diese Sorge hat sie ihr ganzes Leben gehabt. Leider war der Versuch, uns einen Vater zu geben, für uns Kinder nicht so erfolgreich.
Wir vier Kinder sind inzwischen alle erwachsen und haben unsere eigenen Familien. Wir Geschwister haben unserer Mutter zunächst insgesamt vier Enkelkinder geboren: Zwei Jungen und zwei Mädchen - genau wie wir damals waren. Inzwischen hat meine Mutter sechs Enkelkinder und wenn man sie heute fragt, ist ihr grösstes Glück, dass aus uns allen "etwas geworden ist".
Heute lebt meine Mutter in einem Pflegheim, da sie zunehmend unter Demenz leidet. Ihre Erinnerung ist noch stark in allen Dingen die ihre Kindheit betreffen, aktuelle Dinge kann sie nicht mehr behalten.
Ich werde meiner Mutter immer dankbar sein, für den Einsatz und die Liebe die sie uns Kindern entgegenbrachte: Nie hat sie uns in unser Leben rein geredet, sondern hat uns die Freiheit zu eigenen Entscheidungen gelassen. Angesichts ihrer Geschichte und den wenigen Möglichkeiten die sie im Leben hatte, eine wirkliche Lebensleistung.