Montag, 28. Februar 2011

Gut Ding will Weile haben

Seit ich denken kann, lebte ich mit einem Bild von meinem Vater welches sich in erster Linie auf die Erzählungen anderer Menschen stützte. Lediglich die ersten fünf Jahre meines Lebens konnte ich mir einen eigenen Eindruck verschaffen, leider ist das nur eine sehr kurze Zeitspanne.
Das Problem mit der Erzählungen anderer Menschen ist, dass diese Menschen immer nur ihre eigene, subjektiv gefärbte Sicht der Dinge, wiedergeben. Oft wissen sie es nicht besser und sind sogar von dem überzeugt, was sie sagen. Manchmal erzählen sie aber auch bewusst Falsches oder nur Halbwahrheiten damit die Geschichte besser in ihr eigenes Bild von der Welt passt.
Um es offen zu sagen, das Bild welches ich durch diese Erzählungen über meinen Vater gewonnen habe, war kein gutes. So hies es beispielsweise, er hätte in seinem ganzen Laben nicht viel gearbeitet und sich eher so durchgeschlagen mit schlecht bezahlten Hilfsarbeiterstellen. Auch hätte er viel und oft getrunken und sich nicht um die Familie gekümmert. In seiner Jugend, vor seiner Zeit in Vietnam, wäre er wegen des §175 mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
"Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB-Deutschland) existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe." (zitiert nach Wikipedia)
Dieser Mix aus Behauptungen über meinen Vater hat mich sicher auch jahrelang davon abgehalten mehr über meinen Vater zu erfahren. Will man wirklich mehr darüber wissen, wenn schon das, was so erzählt wird nicht gerade gut ausfällt?
Ich bin heute froh darüber, dass ich mich letztendlich nicht davon habe abhalten lassen und selber angefangen habe meinen Vater (und seine Familiegeschichte) für mich zu entdecken.
Die Überprüfung all dieser Behauptungen an der Wirklichkeit hat gezeigt, wie falsch sie waren. Wie unhaltbar sie sind.
Mein Vater hat seit seinem sechzehnten Lebensjahr gearbeitet, bis auf kurze Unterbrechungen durchgehend. Er hat keine Ausbildung gemacht, wie es später üblich war. Dies lag aber in erster Linie aber wohl an den schwierigen Lebensbedingungen direkt nach dem Krieg. Geld zu verdienen war wichtiger als zu lernen, er musste im Hungerwinter 1946 deshalb sogar die Schule verlassen. Er hat Deutschland 1952 aus bislang unbekannten Gründen verlassen und in Vietnam als Soldat gekämpft, dadurch wahrscheinlich schlimme Dinge erlebt. Er war mutig genug um zu desertieren bevor er in einen neuen Krieg nach Algerien geschickt wurde und um bei seiner Gefährtin zu bleiben. Mit dieser hatte er ein Kind in Vietnam. sie waren, ob verheiratet oder nicht, eine Familie. Er hat auch in Vietnam ständig gearbeitet. Als er 1962 Vietnam verlassen musste hat er versuch von Deutschland aus seine Familie nachkommen zu lassen. Dies ist ihm nicht gelungen. Als meine Mutter dann 1963 von ihm schwanger wurde hat er sie nicht sitzen gelassen, sondern er hat zu ihr gestanden, auch wenn seine Mutter - die immer noch einen starken Einfluss hatte - wohl damit nicht einverstanden war. Mit dieser neuen Familie hat er vier Kinder gehabt. Auf allen Fotos aus jender Zeit, kann man sehen wie liebevoll er mit uns Kindern umgeht, seine Blicke sprechen für sich. Er lächelt auf allen alten Fotos seine Kinder an.
Warum er sich 1969 umbrachte ist mir bis heute verborgen. Es kann sich nur um eine Kurzschlusstat - vielleicht nach einer Phase der Depression - gehandelt haben. Sein Schwager hat mir vor einiger Zeit dazu erzählt: "Er war des Lebens müde - nach allem was er erlebt hatte, in zwei Kriegen".
Die Geschichte meiner Familie ist auch noch nicht zuende erzählt, erst heute habe ich einen dicken Umschlag mit alten Fotos von einem Verwandten aus Mudau erhalten. Dazu Unterlagen über den Stammbaum.

Geplant ist hier im Blog als nächster Post ein Eintrag über den Bombenkrieg 1942-1945 in Münster und wie sehr die Menschen damals darunter gelitten haben.
Die Unterlagen liegen hier seit Wochen rum, ich schaffe es einfach nicht sie auszuwerten und daraus einen Blogeintrag zu machen.
Ich muss mir eingestehen, dass mich diese Recherchen auch mental belastet haben. Die Beschäftigung mit dieser Geschichte ist eben nicht nur ein Spaziergang im Sonnenschein. Es berührt nicht nur die Geschichte meiner Familie sondern auch mich ganz persönlich. Auch ich bin ein Vater - der es nicht immer leicht hat. Auch ich habe damit zu kämpfen, was erzählt und behauptet wird. Ich hoffe, die Überprüfung an der Wirklichkeit wird letztendlich der Prüfstein sein.
Der Schock über den Selbstmord des Vaters aber auch das Schweigen danach, haben mich und meine Geschwister (ob sie es wahr haben wollen oder nicht) massiv beeinflusst. Die Seele, oder wie man heute besser sagt: die Psyche, leidet ein Leben lang darunter. Sie haben uns zu den Menschen gemacht die wir heute sind, und jeder von uns hat seinen ganz eigenen Weg gefunden damit umzugehen.
Für mich ist es an der Zeit dieses Trauma hinter mich zu lassen. Zu lange habe ich angenommen, dass es gar keine Bedeutung für mein eigenes Leben hätte.
Es werden also wieder neue Blogeinträge folgen und die Geschichte bleibt spannend. Versprochen.

Sonntag, 6. Februar 2011

Sütterlin - oder: wie ich lernte auf deutsch zu schreiben

An diesem Wochenende habe ich einen Kurs in Sütterlin gemacht. Das ist eine vereinfachte Version der deutschen Schreibschrift. Heute schreiben wir ja alle mit lateinischen Buchstaben bzw. leichten Abwandlungen davon. Aber unsere Eltern und Grosseltern schrieben alle noch in "Sütterlin" - also deutschen Buchstaben.
Die Schrift heisst so nach ihrem "Erfinder": Ludwig Sütterlin. Um den Kindern in den Schulen das Erlernen der deutschen Schreibschrift zu erleichten war er von der preussischen Regierung um 1915 beauftragt worden, eine einfachere Schrift zu erfinden. Er erleichterte einige Regeln und bis 1935 setzte sich die Schrift an allen Schulen durch.
Hier ein Beispiel:
Schulheft von 1929

Heute braucht man diese Schrift um alte Urkunden aus Standesämtern und Kirchenbüchern noch entziffern zu können.
Der Kurs war ein voller Erfolg - direkt im Anschluß habe ich alle meine Geburts- und Sterbeurkunden aus dem Stadtarchiv Münster übersetzen können.