Samstag, 4. Dezember 2010

Mama, Mama, der Papa!

Für mich war dieser Sonntag vor 41 Jahren lange aus meinen Gedächtnis verdrängt. Dabei erinnerte ich mich an so manches ganz genau.
Ich war 5 Jahre alt und spielte an diesem Vormittag wohl mit meinem ein Jahr jüngeren Bruder im Wohnzimmer. Wir wohnten damals im Erdgeschoss einer typischen Altbauwohnung im Erpho-Viertel von Münster. Die Wohnung war für uns Kinder riesig. Zwar teilte ich mir mit meinem Bruder ein Zimmer, aber das stört in diesem Alter noch nicht. Meine beiden Schwestern waren noch jünger, die Kleinste war gerade erst vor etwas mehr als einem Monat 1 Jahr alt geworden, wahrscheinlich hatte sie also gerade mal mit dem Laufen angefangen.
Wir waren demnach zwei Jungen und zwei Mädchen, und vier Kinder waren 1969 noch nichts ungewöhnliches oder seltenes.
Es war Ende Oktober und es kann also durchaus sein, dass das Wetter eher regnerisch war als sonnig - in Münster ist das nun mal so.
Meine Mutter werkelte in der Küche rum und kochte das Mittagessen, mein Vater war nicht zuhause. Damals ging man auch als Familienvater Sonntags zum Frühschoppen in die Kneipe. So auch mein Vater. Das gehörte sich damals irgendwie so.
Irgendwann gegen Mittag hörten wir dann den Schlüssel meines Vaters in der Wohnungstür, er kam zurück aus 'Mauritius' - der Kneipe an der Warendorfer Strasse.
Wahrscheinlich kam er kurz ins Wohnzimmer und auch die Küche, dann verschwand er irgendwie. Wir Kinder spielten weiter. Ich weiss heute nicht mehr was wir gespielt haben, vielleicht schon mit den kleinen Matchboxautos, damit fuhren wir immer auf dem Muster des Teppichs entlang, brummten dabei wie Motoren oder Bremsen und lieferten uns Rennen auf dem Quadrat des Teppichs oder parkten die Autos in ihren Garagen.
Irgendwann, so erinnere ich mich genau, musste ich mal 'Pipi'. Also stand ich auf, ging raus in den Flur auf dem auch die Tür zum WC lag, Das Licht brannte - ich konnte es deutlich durch das Oberlicht über der Tür erkennen. 'Besetzt', so ein Mist, ich ging wieder spielen, bis ich nach einiger Zeit erneut im Flur nachschaute: Das Licht brannte immer noch. Da meine Geschwister alle im Wohnzimmer versammelt waren, meine Mutter lautstark in der Küche arbeitete, konnte es nur mein Vater sein der noch immer auf dem Klo war. Erneut zog ich unverrichteter Dinge wieder ab.
Beim dritten Mal war der Druck auf der Blase schon deutllich angewachsen und so kam mir der Gedanke: 'Vielleicht hat Papa ja auch nur vergessen das Licht auszuschalten und Du kannst jetzt rein'. Ich drückte also die Klinke nach unten, die Tür war nicht verschlossen, langsam öffnete ich die Tür und schaute hinein.
Mein Vater stand ganz hinten im kleinen WC, direkt neben der Schüssel und schien zu schlafen. Ich konnte mir das nicht ganz erklären und rief wohl 'Papa' oder so. Keine Antwort. Also ging ich zu meiner Mutter in die Küche (oder lief ich schon?) und rief: 'Mama, Mama, der Papa steht auf dem Klo und schläft'.
Meine Mutter kam aus der Küche, schaute ungläubig, folgte mir und als sie meinen Vater sah, lief sie zu ihm und gleichzeitig rief sie meinem Bruder, der inwischen auch neugierig mitgekommen war, zu: 'Lauf in die Küche und hol mir ein scharfes Messer'.
Danach setzt meine Erinnerung aus. Es ist alles weg. Für Wochen kann ich mich an keine Details mehr erinnern. Weder wie der Krankenwagen kam, der Arzt der meinen Vater untersuchte, die Beerdigung, die Trauerfeier, nichts. Alles dunkel und leer. Die Trauer und der Schock waren wohl so groß, dass mein Verstand sich selbst ausgeschaltet hat.