Donnerstag, 23. Dezember 2010

Zweihundertfünfzig!!

Heute hab ich weitere Personen in meinen Stammbaum eingetragen. Nach dem Gespräch mit meiner Grosstante Gertrud habe ich den Webmaster von Belgard.org angeschrieben, dort werden u.a. die Kirchenbücher aus Pommern verwaltet und ausgewertet. Die sind eine gute Quelle für Persondenstandsanzeigen wie Geburt, Taufe, Konfirmation, Heirat und Tod.
Mit seinen zusätzlichen Informationen habe ich damit die Grenze von 250 Personen in meinem Stammbaum überschritten.
Hier daher ein Link zu einer pdf-Datei welche alle derzeit enthaltenen Personen auflistet.

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Zurück aus Dorsten

Heute habe ich meine Grosstange Gertrud Neumann, geb. Scheunemann besucht. Sie ist vor 80 Jahren in Schlennin, Pommern geboren und hat grosse Teile ihrer Kindheit mit meiner Mutter zusammen verbracht. Anders als meine Mutter ist sie noch kerngesund und kann sich an vieles erinnern. Wir haben viele Stunden lang über die Zeit in Pommern, die Flucht und Vertreibung und den Neuanfang nach dem Krieg gesprochen. Sie hat mir geholfen die zahlreichen Fotos meiner Mutter aus der alten Heimat durchzusehen und die Personen darauf zu identifizieren. Dabei wusste sie noch soviele Anekdoten und Geschichten zu erzählen, dass ich mit dem notieren gar nicht mehr nachgekommen bin. Zum Glück habe ich das Gespräch aufgezeichnet und werde es in den nächsten Tagen auswerten.
Gertrud Scheunemann, geb. 1930 - Aufnahme ca. 1942

Montag, 20. Dezember 2010

Glaubst Du an den Weihnachtsmann?

Wie kann man etwas wissen und es doch nicht wahr haben wollen?
Viele Kinder glauben ab einem bestimmten Alter nicht mehr wirklich an den Osterhasen und den Weihnachtsmann. Aber sie versuchen gerne sich die Illusion so lange wie möglich zu erhalten. Groß ist dann die Enttäuschung wenn einem ältere Kinder oder Erwachsene erklären, es gäbe den Weihnachtsmann nicht wirklich. Erstaunlich auch, wie schnell man dann doch darüber weg kommt.
Als mein Vater starb, habe ich gesehen was passiert war. Irgendwie gelang es mir aber diese Wahrheit zu verdrängen, lange lebte ich mit der offiziellen Geschichte die uns Kindern, und allen die danach fragten, erzählt wurde: Unser Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Traurig genug - aber eben nicht die ganze Wahrheit.
Meine Mutter hat sich sicher gedacht uns Kinder schützen zu müssen. Wie sollten wir Kinder auch verstehen, warum unser Vater sich umbrachte?
Ich habe bestimmt zehn Jahre jedem der fragte die Geschichte vom Herzinfarkt mit Überzeugung erzählt, auch wenn ich zunehmend begann, selber daran zu zweifeln. Wie konnte man nach einem Herzinfarkt noch aufrecht stehen? An soviel konnte ich mich dann doch erinnern. Mein Bruder erinnerte sich an das Messer, welches er für unsere Mutter aus der Küche holen musste.
Wir sprachen in der Familie nicht darüber, unser Vater war einfach nicht da. Mutter hatte genug damit zu tun, uns alle durchzubringen.
Mit etwa 15 - 16 Jahren wurden die Zweifel immer stärker, ein zeitlang unterhielten mein Bruder und ich, manchmal auch mit den kleineren Schwestern, uns über die Sache. Mit einem befreundeten Studenten der Theologie redeten wir darüber. Er war ein Freund der Familie und sprach wohl unsere Mutter darauf an, dass sie uns jetzt die Wahrheit sagen müsste.
Also wurden wir vier Kinder zusammengeholt und man erzählte uns die wirkliche Todesursache. Einen Grund für den Selbstmord konnte uns unsere Mutter damals nicht nennen. Sie selbst hatte keinen Grund gefunden, keinen Abschiedsbrief oder einen anderen Hinweis. Aus ihrer Erinnerung deutete sich auch nichts an, es war bis zu seiner Tat nicht erkennbar, was in seinem Kopf vor ging.
Meine Mutter macht sich bis heute Gedanken über die Grunde, ihre Seele leidet auch heute noch darunter.

Obwohl ich jetzt offiziell vom Selbstmord meines Vaters wusste, habe ich es jahrelang nicht erzählt. Ich hielt selbst jetzt noch in vielen Situationen an der Herzinfarkt-Variante fest. Die Scham über den Selbstmord des Vaters war einfach zu gross, nur wenigen Menschen konnte ich davon erzählen.
Als ich Anfang dreissig war, ging gerade die Beziehung mit der Mutter meiner Tochter in die Brüche. Als Rettungsversuch gingen wir zu einer Beratunsstelle für Paare mit Kindern in Krisensituationen. Für mich eine ungewöhnliche Situation, ich konnte mir garnicht so recht vorstellen wie der Therapeut uns helfen sollte.
Im Laufe der Sitzungen ging es eigentlich immer weniger um die aktuellen Probleme sondern der Therapeut fragte uns immer öfter nach Dingen aus unser Kindheit, wie wir unsere Eltern erlebt hätten, schliesslich forderte uns beide auf ein Bild zu malen von uns selbst.
Was malt man alles auf solch ein Bild? Ein einfaches Selbstportrait sicher nicht. Ich malte mich stehen in der Mitte des Bildes mit ausgebreiteten Armen, in Blickrichtung all die Dinge die ich mag und die mir wichtig waren, hinter mir die Dinge aus meiner Vergangenheit welche ich im Wortsinn auch hinter mir lassen wollte. Jedes Themenfeld drückte ich mit einem kleinen Bildchen aus.
In der nächsten Sitzung wollte ich mein Bild vorstellen, natürlich hauptsächlich die Dinge die ich positiv, nach vorne schauend, empfand. Aber der Therapeut lies sich nicht davon ablenken, er falte das Blatt in der Mitte und so konnte man nur noch sehen, was ich hinter mir lassen wollte. Er fragte konkret nach "was ist denn damit gemeint" und zeigte mit dem Finger auf ein Bildchen. Es war über den Selbstmord meines Vaters.
Ich erzählte, was ich damit ausdrücken wollte und wie ich den Tod meines Vaters in Erinnerung hatte und das wir bis heute nicht wussten wieso er sich umgebracht hatte. Den genauen Gesprächsverlauf erinnere ich nicht, aber er sagte sowas wie:  "Es ist gut, dass sie trotz dieses Ereignisses ein so normales Leben führen, viele Menschen wären daran zerbrochen". Für mich war das zunächst befremdlich. Warum sollte ich daran zerbrechen wenn mein Vater eintscheidet so aus dem Leben zu gehe?
Einige Tage später bin ich dienstlich mit dem Wagen unterwegs gewesen als mich plötzlich, wie eine gewaltige Welle, all die jahrelang verdrängen Gefühle einholten. Ich musst am Strassenrand anhalten und konnte bestimmt eine Stunde nicht weiterfahren.
Zum ersten mal konnte ich trauern um meinen Vater, wir hatten als Kind nie Abschied nehmen können von ihm, das ganze Thema war einfach Tabu gewesen. Jetzt spürte ich auch Wut darüber, dass er uns als seine Kinder einfach verlassen hat, zurückgelassen hatte. Er war nicht bei uns gewesen als wir in die Schule kamen, als wir ihn brauchten, seine Hilfe oder seinen Rat, er war kein Vorbild zum dem die Kinder aufschauten wenn sie klein sind und an dem sie sich abarbeiten wenn sie grösser werden.
In diesen Tagen ging ich innerlich durch die Hölle, aber als ich durch war, kam ich mir vor, als wenn ich nach einem anstrengenden Bergaufstieg am Gipfel angekommen bin, die Aussicht geniese und die frische Luft atmen kann.
Seit dieser Zeit kann ich offen über den Selbstmord meines Vaters reden, nicht mit jedem aber mit deutlich mehr Menschen als früher. Und es hat nochmal mehr als zehn Jahre gedauert bis ich anfing über sein Leben nachzudenken und begann Nachforschungen anzustellen. Vierzig Jahre nach seinem Tod ist vieles nicht mehr zu erfahren, manches wird wohl ewig im dunkeln bleiben.
Diese Blog ist auch ein Versuch damit umzugehen,
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Der dritte Vater

Ich brauch mir nicht nur vorzustellen, was es heisst, Mutter oder Vater durch einen frühen Tod zu verlieren. Meine beiden Eltern teilen auf tragische, aber unterschiedliche Weise, das gleiche Schicksal mit mir.
Da ich mich nur noch in kleinen Erinnerungsfetzen an das Leben mit meinem Vater erinnere, kann ich nicht genau beschreiben, was dadurch in meiner Kindheit anders gewesen ist.
Mein Vater war einfach nicht mehr da, alles wurde über meine Mutter alleine organisiert. Sie war unsere wichtigste Bezugsperson. Natürlich gab es um uns herum viele Väter in den Familien. Damals war der allein erziehende Elternteil eher die Ausnahme.
Am deutlichsten ist mir in Erinnerung welche materiellen Auswirkungen der fehlende Vater hatte. Mit vier kleinen Kindern und einer schlechten Berufsausbildung konnte meine Mutter nur schwierig am Erwerbsleben teilnehmen. Und wenn sie dies tat, waren wir Kinder oft auf uns alleine gestellt. Geld war trotzdem immer knapp und ich erinnere mich noch an Mitarbeiter des Sozialamts, die in Schränke schauten, ob wir denn wirklich einen neuen Wintermantel brauchten.
An zwei Dinge erinnere ich mich aus der Zeit in Coerde (1972 - 1977) ganz besonders:
Wir vier Kinder hatten damals wie selbstverständlich einen Teil der anfallenden Hausarbeit zu übernehmen, da unsere Mutter ja arbeiten ging. Wir teilten die Hausarbeit im wöchentlichen Wechsel auf. Die Küchenwoche war immer die schlimmste von allen, weil hier die meiste Arbeit anfiel. Der Wohnungsflur dageben war relativ angenehm.
Da unsere Mutter oft nicht zuhause war, mussten wir u.a. auch Einkäufe erledigen. Mit der Bäckerei in Coerde (Die erste Filiale von Schrunz) hatte meine Mutter deshalb vereinbart, dass wir gekauftes Brot 'anschreiben' lassen konnten. Am Ende des Monats zahlte Mutter dann die lange Liste auf einmal. Wir Kinder hatten schnell raus, dass man auch eine Rumkugel, Makrone u.s.w. anschreiben lassen konnte und so sammelten sich zahlreiche Kleinbeträge im Laufe des Monats an. Meine Mutter hat es nie geschafft dies zu unterbinden.

Grössere Klassenfahrten stellten für unsere Mutter immer eine nicht leistbare Herausforderung dar. Als meine Mitschüler in der 8. oder 9. Klasse eine einwöchige Fahrt in die Eifel machten, blieb ich in der Parallelklasse zurück.

Es gibt noch viele Dinge aus meiner Jugend die es wert sind, erzählt zu werden. In Summe denke ich, dass all diese Erfahrungen, ob bewusst erinnert oder nur im Hintergrund vorhanden, mich mit zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin.

Heute bin ich ein 'getrennter Vater'; meine Tochter lebt seit nun dreizehn Jahren bei ihrer Mutter. Auch nach der Trennung war mir der regelmäßige Kontakt zu meiner Tochter wichtig. Mit der Entscheidung, mich von ihrer Mutter zu trennen, habe ich ihr auch ein Stück Vater genommen. Dieses Gefühl ist die schlimmste Wunde, die ich mir damals zugefügt habe. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste mich entscheiden, was ich will und was ich nicht mehr will. Auf keinen Fall hätte ich die Situation, so wie sie war, länger ausgehalten. Mit den Konsequenzen der Entscheidung muß ich mich bis heute beschäftigen.

Sonntag, 12. Dezember 2010

Auch Mütter haben Väter

Die enorme Lebensleistung meiner Mutter Ilse ist mir lange nicht bewusst gewesen. Sicher auch weil in den üblichen Massstäben unserer Gesellschaft, nicht jeder dies als eine Leistung im klassischen Sinne bezeichnen würde.
Heut weiss ich zu beurteilen was meine Mutter alles aushalten musste und ich verstehe die Gefühle welche sie durchlebt hat ein wenig mehr.
Die Familie meiner Mutter kommt aus Pommern, genauer aus Schlennin bei Belgard. Sie wurde im Mai 1932 als uneheliches Kind von Martha Eggert und Friedrich Machenthum geboren.
Ilse Eggert - ca. 1 Jahr alt

Die Familie meiner Mutter arbeitete auf einem Gutshof derer von Heydebreck. Traditonell wurde in diesem Gebiet Kartoffeln angebaut. Ihr Vater hat ihre Mutter nicht geheiratet. Er selber war eine Art wandernder Landarbeiter. Später ging er in die Kreisstadt Köslin und gründete dort eine Familie. Das wird an einer anderen Stelle der Geschichte noch interessant werden.
Als meine Mutter zwei Jahre alt war, heiratete ihre Mutter Martha den Landarbeiter Erich Trettin.
Bauernhochzeit Martha Eggert und Erich Trettin 1934, meine Mutter ist das Kind in der 1. Reihe 4. v. rechts

Mit ihm bekam sie noch zwei Kinder: Helga und Willi.
Meine Mutter ist viel bei den Eltern ihrer Mutter aufgewachsen, ihre Oma Bertha wird sich wohl hauptsächlich um sie gekümmert haben. Auf alten Fotos erkennt man die einfachen Lebensverhältnisse in denen damals gelebt wurde. Das Leben bestand zum grossen Teil aus der Arbeit auf dem Gutshof und der Arbeit auf dem eigenen Lehen um die Familien durch zu bringen. Zur Schule ging meine Mutter in den nächsten grösseren Ort Neu Buckow.
1939 begann der Krieg und das Leben änderte sich radikal. Nach den anfänglichen Siegesmeldungen an alle Fronten, erkennt man auf den alten Fotos zunehmend auch Männer in Soldatenuniform. Die Front brauchte ständig Nachschub.

von rechts: meine Mutter Ilse, ihre Mutter Martha, Onkel Paul mit seiner Frau Frieda. ca. 1944
Von den Brüdern meiner Oma sind fast alle im Krieg gefallen. Auch ihr Stiefvater wurde als Soldat eingezogen und nach Norwegen geschickt. Er überlebte zwar den Krieg, sollte seine Heimat aber nie wieder sehen.
Im März 1945 war die Rote Armee schon bis an das Dorf Schlennin herangekommen. Die Dorfbewohner versuchten Richtung Westen zu fliehen, wurden aber schon nach kurzer Zeit von der Roten Armee überrollt und zurück in ihr Dorf geschickt. Meine Mutter Ilse war damals erst 12 Jahre alt. Ihre Mutter starb kurz danach an einer Lungenentzündung und fehlender medizinischer Versorgung.
Ab September 1945 wurden die Deutschen dann vertrieben. Meine Mutter gelangte mit ihren Grosseltern und ihren beiden Geschwistern bis nach Halberstadt und dort blieben sie einige Zeit in einem Flüchtlingslager.
Ihr Stiefvater gelangte aus Norwegen zurück nach Norddeutschland in die Nähe von Leer/Ostfriesland. Von hier aus schickte er nach seinen beiden leiblichen Kindern die noch immer im Flüchtingslager bei Halberstadt lebten. Aber die beiden kleinen Geschwister wollten nicht ohne ihre grosse Schwester gehen und so durfte sie doch mitkommen. Für meine Mutter muss dies eine weitere Enttäuschung gewesen sein, dass der Stiefvater sie einfach so zurücklassen wollte.
In Ostfriesland arbeitete meine Mutter zunächst auf einem Bauernhof um zu überleben, später ging sie nach Wuppertal weil man dort eine Art Ausbildung zur Krankenpflegerin machen konnte. Man bedenke, dass meine Mutter mit 13 Jahren die Schule verlassen musste.
Wahrscheinlich ist sie Anfang der 50er Jahre dann von Wuppertal nach Münster gegangen. Sie hatte erfahren, dass ihr leiblicher Vater jetzt hier lebte. Er hatte in Köslin eine Familie gegründet und diese bestand inzwischen aus 5 Kindern. Die Ehefrau Gertrud nahm meine Mutter herzlich auf und sie wurde für uns Jahre später zur besagten "Oma Stehrweg", obwohl sie mit uns nicht verwandt war.
Gertrud und Friedrich Mackenthum (Opa)

Wer dachte, jetzt hätte meine Mutter ihre Familie endlich gefunden hat sich zu früh gefreut.
Ihr Vater, Friedrich Mackenthum, verlies in den 50er Jahren auch seine zweite Familie. Seine Frau und sechs Kinder lies er sitzen und ging in die DDR, nicht aus politischer Überzeugung sondern um sich möglichen Unterhaltsverpflichtungen zu entziehen.
Jetzt stand meine Mutter also wieder ohne Vater da. Aber das gute Verhältnis zur Stiefmutter blieb zeitlebens erhalten, und die fünf Halbgeschwister waren für uns wie selbstverständlich unsere Onkel und Tanten.
Meine Mutter hat 1960 einen deutlich älteren Mann geheiratet. Die Ehe wurde nach zwei Jahren geschieden und Ende 1962 / Anfang 1963 lernte sie meinen Vater kennen, der gerade aus Vietnam zurück gekommen war.
Besonders bei der Mutter meines Vaters hatte sie es wohl schwer, anerkannt zu werden.
Die beiden heirateten am 10. März 1964

Das glückliche Paar mit den Trauzeugen

und schon zwei Wochen später wurde ich geboren. Das war wirklich knapp!
Nach dem Tod unseres Vaters wurde es für unsere Mutter sehr schwer. Vier Kinder gross ziehen ist keine leichte Aufgabe. Ich erinnere mich an so manche Entbehrung in unserer Kindheit. Unsere Mutter hat eigentlich immer gearbeitet, meistens gering bezahlte, einfache Tätigkeiten. Nach dem Tod unseres Vaters hat es einige Versuche unserer Mutter gegeben eine neue Beziehung einzugehen. Oft scheiterten sie an der grossen Kinderzahl im Hintergrund. Als ich und auch mein Bruder in die Pubertät kamen, meinte meine Mutter, es wäre Zeit, wieder einen Vater für uns zu finden damit wir nicht auf die schiefe Bahn kämen. Diese Sorge hat sie ihr ganzes Leben gehabt. Leider war der Versuch, uns einen Vater zu geben, für uns Kinder nicht so erfolgreich.
Wir vier Kinder sind inzwischen alle erwachsen und haben unsere eigenen Familien. Wir Geschwister haben unserer Mutter zunächst insgesamt vier Enkelkinder geboren: Zwei Jungen und zwei Mädchen - genau wie wir damals waren. Inzwischen hat meine Mutter sechs Enkelkinder und wenn man sie heute fragt, ist ihr grösstes Glück, dass aus uns allen "etwas geworden ist".
Heute lebt meine Mutter in einem Pflegheim, da sie zunehmend unter Demenz leidet. Ihre Erinnerung ist noch stark in allen Dingen die ihre Kindheit betreffen, aktuelle Dinge kann sie nicht mehr behalten.
Ich werde meiner Mutter immer dankbar sein, für den Einsatz und die Liebe die sie uns Kindern entgegenbrachte: Nie hat sie uns in unser Leben rein geredet, sondern hat uns die Freiheit zu eigenen Entscheidungen gelassen. Angesichts ihrer Geschichte und den wenigen Möglichkeiten die sie im Leben hatte, eine wirkliche Lebensleistung.

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Vaters Vater

Meine Mutter hat vier Kinder allein groß gezogen. Meine kleinste Schwester war gerade ein Jahr alt als meine Mutter plötzlich mit uns alleine da stand.
Was ich lange nicht wusste war, dass auch mein Vater seinen Vater früh verloren hat. Es war Walter Redlich, gestorben 1945. Für uns war er nur eine Erinnerung durch die Inschrift auf dem Grabstein. Als er starb war mein Vater erst 16 Jahre alt.
Walter Redlich 1899 - 1945
Bei meinen Nachforschungen stellte ich fest, dass mein Grossvater nicht in Russland gefallen war. Durch eine Recherche beim Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge fand ich heraus, dass seine Ruhestätte bekannt und an der französichen Kanalküste, nicht weit entfernt von Mont St. Michel liegt. Er starb am 6. August 1945, also drei Monate nach Ende des Krieges, in französischer Kriegsgefangenschaft wahrscheinlich an den Folgen der Bedingungen in den Lagern. An diesem Tag warfen die USA auch die erste Atombombe auf Hiroshima.
Als ich in diesem Jahr sein Grab in der Kriegsgräberstätte in Mont-de-Huisne besuchte, war ich auf den Tag genauso alt wie er, als er starb: 46 Jahre, 2 Monate und 22 Tage. Es gibt keine Zufälle.


Mont de Huisne
Gruft 12
Grabkammer 131
Das Totenbuch
Beim Gang durch die Anlage und beim Blättern durch das Totenbuch viel mir auf, dass sehr viele der hier beerdigten Soldaten über 40 Jahre alt waren, wahrscheinlich Familienväter genau wie mein Opa. Sie waren Hitlers letztes Aufgebot im Westen, nach der Landung der Allierten in der Normandie. Die Jugend war oft schon auf den Schlachtfeldern im Osten gefallen.
Um mehr über meinen Grossvater zu erfahren habe ich auch eine Brief an die WAST oder auch "Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht" geschrieben. Bei der WAST in Berlin werden alle alten Unterlagen  der Wehrmacht aufbewahrt. Nach fast einem Jahr Wartzeit erhielt ich Antwort, zwei DIN A4 Seiten militärischer Lebenslauf meines Grossvaters.
  • Erkennungsmarke -6684- St.Kp. F.E.B. 39 (Stammkompanie Füsilier Ersatz Bataillon 39) in Goch
  • Eingezogen wahrscheinlich Ende 1943 (mein Vater war 14 Jahre alt)
  • Ab 1944 im Sicherungs-Bataillon 315, dies wurde in Radom (PL) eingesetzt, die deutsche Rüstungsindustrie betrieb dort u.a. ein Arbeitslager mit polnischen Gefangenen. Es kann also sein, dass mein Opa zur "Sicherung" des Lagers eingesetzt wurde.
  • Im Januar 1945 wurde die Einheit beim Einmarsch der Roten Armee aufgerieben, überlebende Soldaten flüchteten über Kutno in nordwestlicher Richtung und wurden wahrscheinlich anschliessend an der Westfront eingesetzt. Dort muss er in Gefangenschaft gekommen sein. Die näheren Umstände sind mir bislang nicht bekannt.
  • Die Bedingungen in den Lagern waren alles andere als gut. Möglich wäre es auch, dass er zunächst in amerikanischer Gefangenschaft in einem der berüchtigten Lager am Rheinufer war. Die Amerikaner haben später die Lager an die Franzosen übergeben. Da die Franzosen selber fast nichts zu essen hatten, kann man sich vorstellen, wie viel für die verhassten Deutschen übrig blieb.
  • Laut WAST starb mein Opa im Hospital für Kriegsgefangene in Rennes infolge eines natürlichen Todes
  • Die Meldung über seinen Tod erreichte Münster erst im April 1947 - vier Jahre wusste seine Familie also wahrscheinlich nicht, was aus ihm geworden ist und ob er noch lebte.
Bei der Suche nach Informationen über meinen Grossvater fand ich im Internet eine Seite von Franzosen über die Lager in und um Rennes zum Ende des Krieges. In den langen Listen die von den ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt werden, stehen auch die Daten meines Vaters. Nachdem ich Kontakt aufgenommen hatte zum Webmaster wurde sogar ein Foto meines Grossvaters ergänzt.
Der Verein in Frankreich bemüht sich darum, die Geschichte der Lager aufzuarbeiten. Hier der Link zur Seite (einiges in deutsch - viel aber auf französisch geschrieben)

    Mittwoch, 8. Dezember 2010

    Wo in aller Welt liegt Nam Dinh?

    Mein Vater ist also in Vietnam gewesen. Aber warum war er aus Deutschland fort und was wollte er ausgerechnet in Vietnam?
    Ein zweites Foto führte mich und meine Geschwister auf eine weitere Spur:



    Auf der Rückseite des Fotos stand folgendes geschrieben: "Für meine liebe Mutti als ewiges Andenken an Ihren Sohn Wolfgang - Nam-Dinh 1. 12. 1953 - Tonkin - Indo-China".
    Auffällig war für uns, dass unser Vater eine Uniform zu tragen schien,  als Deutscher in Vietnam etwas ungewöhnlich fanden wir.
    Unsere Mutter erklärte, Vater wäre eine Zeit in der Fremdenlegion gewesen bevor er sich selbstständig gemacht hätte und er wäre aus Deutschland weg, weil er 'juristische' Probleme gehabt hätte. Da waren wir aber schon halbe Erwachsene, Teenager um genau zu sein.
    Wo Nam Dinh liegt und was er in Vietnam alles so gemacht hat, habe ich erst 2009 erfahren. Im Jahre 2008 habe ich geheiratet und unsere Hochzeitsreise ging nach Vietnam. Eigentlich wollten wir nach China, aber das war wegen der Olympiade zu teuer, also Vietnam. Je näher der Reisetermin rückte, um so bewusster wurde mir, dass da doch noch was gewesen war mit Vietnam. Lange verdrängte und ignorierte Erinnerungen wurden geweckt. Nach der Rückkehr von einer tollen Reise (mit der der wunderbarsten Frau der Welt *zwinker) habe ich mich also aufgemacht mehr zu erfahren. Zunächst habe ich meinen Bruder gebeten mir die alten Fotos einzuscannen und zu schicken. Er hatte sie all die Jahre aufbewahrt und wohl auch immer mal wieder versucht etwas mehr über unseren Vater zu erfahren. Leider bislang wenig erfolgreich.
    Das Internet sollte dem erneuten Versuch aber ganz andere Möglichkeiten geben. Als erstes machte ich ein deutsches Forum von ehemaligen Fremdenlegionären ausfindig. In der französischen Fremdenlegion haben eigentlich ständig viele deutsche Männer gedient. In diesem Forum habe ich zunächst einiges über die Uniform meines Vaters erfahren.




    Auf diesem Foto ist er mit einem unbekannten Freund zu sehen. Die ehemaligen deutschen Fremdenlegionäre erklärten mir dazu unter anderem:

    • Beide tragen das TOE (Croix de Guerre des Theatres d´Operations Exterieurs)
    • Mein Vater trägt das Verwundeten Abzeichen
    • Sie fallen auf, weil sie nicht die üblichen Fourrager und keine Regimentsabzeichen tragen
    • Die gute Nachricht: Sie waren wohl keine blauen Säcke (=Anfänger) mehr, da sie schon Abzeichen tragen.
     Es ist mir aufgefallen wieviele Menschen heute noch nach Angehörigen suchen bzw. Fragen zu ihren Vätern, Grossvätern, Onkeln etc. aus dieser Zeit (1950 - 1960) haben und im Forum danach fragen.
    Aber letztlich fand ich in diesem Forum niemanden der meinen Vater persönlich kannte, aber man gab mir den Tipp doch mal direkt die Fremdenlegion in Frankreich anzuschreiben und um Auskunft zu bitten. Aber davon erzähle ich beim nächsten mal.

    Montag, 6. Dezember 2010

    Die andere Familie

    Nach dem Tod unseres Vaters erfuhren wir Kinder nach und nach erstaunliche Dinge aus seinem Leben.
    Man kann sich garnicht vorstellen, wie lange es dauern kann, bis man alle diese Kleinigkeiten und halbwahren Informationen zusammenfassen und zu einem neuen Bild zusammensetzen kann.
    Eine der ersten Irritationen war für mich als Kind, dass unser Vater schon vor uns eine andere Familie hatte.
    Wir fanden in den Fotokisten die im Wohnzimmerschrank standen Bilder die ganz offensichtlich unseren Vater mit einer anderen Frau und einem kleinen Mädchen zeigten.

    Weihnachten 1960 - Nhatrang - Südvietnam

    Auf Nachfragen erklärte uns unsere Mutter, unser Vater sei einige Zeit in Vietnam gewesen, welches damals noch Indochina hies, er hätte dort als Vertreter für Reifen geabeitet und eine Familie gehabt. Allerdings sei diese von den Vietcong ermordet worden als er mal auf einer Dienstreise war und deshalb habe er sich zur Rückkehr nach Deutschland entschlossen.
    Klar, von Vietnam hatte man schon als Kind gehört. Der Krieg war ja in den 70er Jahren noch immer im Gang und man wusste also auch, dass viele Menschen dort starben.
    Das war das erste mal, dass ich ein wenig nachdenklich wurde. Aber irgendwie hab ich das Thema auch bald wieder vergessen. Man denkt halt auch nicht jeden Tag über die Geschichte seines Vaters nach, wenn man selbst noch ein kleines Kind ist.

    Sonntag, 5. Dezember 2010

    Der Name auf dem Grabstein

    Mein Vater wurde auf dem Mauritz-Friedhof beerdigt. Es gibt Fotos vom Tag der Beerdigung mit zahlreichen Kränzen auf dem frischen Erdhügel. Ich erinnere mich an nichts. Einige Zeit später wurde der Grabstein aufgestellt. Dort stand, in weissen Buchstaben sein Name: Wolfgang Redlich; und seine Lebensspanne: 1929 bis 1969.
    Am unteren Rand des Grabsteins wurde ein weiterer Name angebracht: Walter Redlich, 1899 bis 1945, zusätzlich zum Sterbejahr mit dem Eisernen Kreuz versehen.


    Als Kinder waren wir oft mit unserer Mutter auf dem Friedhof, haben das Grab gepflegt, den schmalen Weg runterherum geharkt und den Grabstein vom Vogeldreck gereinigt. Irgendwann werde ich sicher angefangen haben zu fragen: 'Mama, wer ist denn dieser Walter Redlich?'. Es war mein Grossvater und es hies, er sei im Zweiten Weltkrieg in Russland geblieben. Russland, das kannte ich als Kind schon. Dort war der Krieg verloren gegangen, in dieser schrecklichen Schlacht von Stalingrad. Opa war also auch bestimmt irgendwo dort gestorben und es gab kein richtiges Grab, so wurde sein Name zur Erinnerung nun auf diesem Grabstein erwähnt.
    Vorher hatte ich mich nie darüber gewundert, dass ich zwar eine Oma Redlich, aber keinen Opa hatte. Auch gab es keine Oma und Opa auf Seiten meiner Mutter.
    Damals war das alles für mich unverständlich. Später gab es dann eine 'Oma Stehrweg' die wir deshalb so nannten, weil sie auf dem Stehrweg wohnte, und wir wussten auch, dass sie nicht die 'richtige' Mutter unserer Mutter war, sondern sie nach dem Krieg angenommen hatte. Einzelheiten interessierten uns damals als Kinder nicht.
    Unsere Oma Redlich starb nur drei Jahre später während ich auf einer Kur im Sauerland war, als ich wieder zurück war, hatte die Beerdigung schon stattgefunden und sie lag jetzt im gleichen Grab wie mein Vater und ihr Name wurde ebenfalls in den Grabstein eingetragen.
    Jetzt lebten also nur noch der Bruder und die beiden Schwestern meines Vaters. Leider brach der Kontakt zu diesem Teil der Familie nach dem Tod meines Vaters vollständig ab. Meine Mutter hat immer erzählt, sie hätten ihr die Schuld am Tod unseres Vaters gegeben und deshalb hätte sie keinen Kontakt mehr haben wollen.
    Genau wie ich hatte mein Vater drei Geschwister, sie waren zwei Jungs und zwei Mädchen, genau wie bei uns.
    Erst jetzt, vierzig Jahre später habe ich mir Gedanken gemacht, wie es wohl für meinen Vater war, als er mit 16 Jahren seinen Vater verloren hat, im Krieg gefallen. Ich wusste nichts darüber - die Geschwister waren jetzt auch alle Tod, teilweise wurden sie im gleichen Grab wie mein Vater beerdigt. Niemand konnte mir etwas erzählen. Es gab keinen Kontakt zu Cousins oder Cousinen, meine Mutter war alles andere als gesprächig zu diesem Thema und wenn, gab es oft widersprüchliche Auskünfte.
    Eine zunehmende innere Unruhe hat mich dann veranlasst mit Nachforschungen zu beginnen. Ich wollte mehr wissen über meinen Vater, seine Familie, aber auch die Familie meiner Mutter. Ich habe angefangen zu suchen und tatsächlich gab es jede Menge zu erfahren.

    Samstag, 4. Dezember 2010

    Mama, Mama, der Papa!

    Für mich war dieser Sonntag vor 41 Jahren lange aus meinen Gedächtnis verdrängt. Dabei erinnerte ich mich an so manches ganz genau.
    Ich war 5 Jahre alt und spielte an diesem Vormittag wohl mit meinem ein Jahr jüngeren Bruder im Wohnzimmer. Wir wohnten damals im Erdgeschoss einer typischen Altbauwohnung im Erpho-Viertel von Münster. Die Wohnung war für uns Kinder riesig. Zwar teilte ich mir mit meinem Bruder ein Zimmer, aber das stört in diesem Alter noch nicht. Meine beiden Schwestern waren noch jünger, die Kleinste war gerade erst vor etwas mehr als einem Monat 1 Jahr alt geworden, wahrscheinlich hatte sie also gerade mal mit dem Laufen angefangen.
    Wir waren demnach zwei Jungen und zwei Mädchen, und vier Kinder waren 1969 noch nichts ungewöhnliches oder seltenes.
    Es war Ende Oktober und es kann also durchaus sein, dass das Wetter eher regnerisch war als sonnig - in Münster ist das nun mal so.
    Meine Mutter werkelte in der Küche rum und kochte das Mittagessen, mein Vater war nicht zuhause. Damals ging man auch als Familienvater Sonntags zum Frühschoppen in die Kneipe. So auch mein Vater. Das gehörte sich damals irgendwie so.
    Irgendwann gegen Mittag hörten wir dann den Schlüssel meines Vaters in der Wohnungstür, er kam zurück aus 'Mauritius' - der Kneipe an der Warendorfer Strasse.
    Wahrscheinlich kam er kurz ins Wohnzimmer und auch die Küche, dann verschwand er irgendwie. Wir Kinder spielten weiter. Ich weiss heute nicht mehr was wir gespielt haben, vielleicht schon mit den kleinen Matchboxautos, damit fuhren wir immer auf dem Muster des Teppichs entlang, brummten dabei wie Motoren oder Bremsen und lieferten uns Rennen auf dem Quadrat des Teppichs oder parkten die Autos in ihren Garagen.
    Irgendwann, so erinnere ich mich genau, musste ich mal 'Pipi'. Also stand ich auf, ging raus in den Flur auf dem auch die Tür zum WC lag, Das Licht brannte - ich konnte es deutlich durch das Oberlicht über der Tür erkennen. 'Besetzt', so ein Mist, ich ging wieder spielen, bis ich nach einiger Zeit erneut im Flur nachschaute: Das Licht brannte immer noch. Da meine Geschwister alle im Wohnzimmer versammelt waren, meine Mutter lautstark in der Küche arbeitete, konnte es nur mein Vater sein der noch immer auf dem Klo war. Erneut zog ich unverrichteter Dinge wieder ab.
    Beim dritten Mal war der Druck auf der Blase schon deutllich angewachsen und so kam mir der Gedanke: 'Vielleicht hat Papa ja auch nur vergessen das Licht auszuschalten und Du kannst jetzt rein'. Ich drückte also die Klinke nach unten, die Tür war nicht verschlossen, langsam öffnete ich die Tür und schaute hinein.
    Mein Vater stand ganz hinten im kleinen WC, direkt neben der Schüssel und schien zu schlafen. Ich konnte mir das nicht ganz erklären und rief wohl 'Papa' oder so. Keine Antwort. Also ging ich zu meiner Mutter in die Küche (oder lief ich schon?) und rief: 'Mama, Mama, der Papa steht auf dem Klo und schläft'.
    Meine Mutter kam aus der Küche, schaute ungläubig, folgte mir und als sie meinen Vater sah, lief sie zu ihm und gleichzeitig rief sie meinem Bruder, der inwischen auch neugierig mitgekommen war, zu: 'Lauf in die Küche und hol mir ein scharfes Messer'.
    Danach setzt meine Erinnerung aus. Es ist alles weg. Für Wochen kann ich mich an keine Details mehr erinnern. Weder wie der Krankenwagen kam, der Arzt der meinen Vater untersuchte, die Beerdigung, die Trauerfeier, nichts. Alles dunkel und leer. Die Trauer und der Schock waren wohl so groß, dass mein Verstand sich selbst ausgeschaltet hat.

    Freitag, 3. Dezember 2010

    Das unentdeckte Leben meines Vaters

    „Dein Vater war schwul und ging hinter dem Bahnhof auf den Strich.“

    Mehr als vierzig Jahre habe ich gebraucht um diesen Satz aufzuschreiben. Diese vierzig Jahre, seit dem Tod meines Vaters, waren in ihren verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich für mich. In den ersten 10 Jahren wusste ich nicht einmal die Wahrheit über den Tod meines Vaters. Ich bin mit einer Lüge über die genauen Umstände seines Todes aufgewachsen. Dies alles geschah natürlich in der besten Absicht und war gut gemeint. Man wollte mich und meine jüngeren Geschwister schützen vor der Wahrheit. Der Tod unseres Vaters war nicht schon schlimm genug, auch noch zu wissen wie er sein Leben verloren hat, so meinte man damals, würde uns Kinder noch mehr belasten.
    Da ich damals erst fünf Jahre alt war, meine drei Geschwister noch jünger, kann ich diese Haltung auch heute noch nachvollziehen. Auch wenn es, wie so vieles im Leben, eben nur 'gut gemeint' und daher nicht wirklich gut für uns war.
    Es ist letztlich durch uns Kinder und unser gemeinsames Erinnern an den Todestag unseres Vaters, das Austauschen von Erinnerungen an diesen Tag, welche, wenn man sie alle zusammen fügte, nicht mit der offiziellen Version, dem was man uns so lange erzählt hatte, zusammenpasste. Dabei hatten wir sie selber jahrelang, immer dann, wenn nach unserem Vater gefragt wurde bereitwillig wiedergegeben.
    Als wir Kinder uns also sicher waren, dass diese Geschichte über den Tod unseres Vaters nicht stimmen konnte, haben wir angefangen Fragen zu stellen und Antworten erwartet. Es stellte sich schnell heraus, dass scheinbar alle Erwachsenen um uns herum die Wahrheit kannten, nur wir Kinder nicht. Schließlich rief uns unsere Mutter zusammen um uns die Wahrheit über den Tod unseres Vaters zu erzählen und plötzlich wurden viele  Dinge für mich verständlich und ich konnte sie richtig einordnen. Inzwischen waren fast 10 Jahre seit seinem Tod vergangen und für mich war es, mitten in der Pubertät, ein Schock die Wahrheit zu erfahren. Obwohl ich das damals alles damals natürlich nicht sofort gemerkt habe. Im Vordergrund stand für mich eher das Gefühl, dass wir Kinder doch recht hatten mit unseren Vermutungen und dass wir von den Erwachsenen belogen worden waren.
    Aber auch wenn wir nun genauer wussten WIE er an jenem Sonntag im Oktober 1969 gestorben war, über das WARUM hatte man uns nichts gesagt. Meine Mutter beteuert bis heute die Gründe nicht zu kennen, ob es wirklich stimmt oder ob es immer noch ein Schutz ist, kann ich nicht sagen. Inzwischen ist meine Mutter fast achtzig Jahre alt und zunehmend dement. Es macht auch keinen Sinn mehr, sie mit Fragen zu bedrängen.
    Irgendwie hätte ich das alles hier früher anfangen müssen, die Nachforschungen, die Fragen, die Unruhe hätte mich mindestens zwanzig Jahre früher ergreifen müssen. Aber es ging nicht eher, ich habe einfach so lange gebraucht um mich auf den Weg zu machen und um mehr zu über meinen Vater zu erfahren. Wenn ich so zurück schaue bestand mein Vater zum größten Teil in meiner Erinnerung nur aus seinem Tod. Alle anderen Erinnerungen an ihn verblassten angesichts dieses Tages, es waren auch zu wenige Dinge an die ich mich wirklich noch erinnern konnte.
    - Die Fahrt mit dem Ausflugsdampfer auf dem Dortmund-Ems-Kanal zum Märchenwald nach Ibbenbüren, wir Jungs, mein Bruder Armin und ich, in kurzen Hosen auf dem Deck des Schiffs mitten in der Sonne, unser Vater packt mit uns das Frühstück aus dem Rucksack aus. Hart gekochte Eier mit brauner Schale, wir schälen die Eier und streuen Salz aus sehr kleinen Salzsteuern drauf und essen voller Genuss jeder ein Ei.
    - Mit Vater im Freibad Stapelskotten in Münster, zum ersten mal im tiefen Wasser. Ich ängstlich am Beckenrand entlang watend immer wieder sicheren halt suchend, mich festhaltend, mein Vater am Beckenrand oben stehend, mich ermutigend und gleichzeitig eine Kamera in der Hand um diesen Moment in Bildern für die Ewigkeit festzuhalten.
    Es sind kurze Momente wie diese, die mir in Erinnerung geblieben sind, zu wenige um behaupten zu können, ich habe meinen Vater gekannt, aber genügend um zu wissen, dass dieser eine Satz, der dort oben am Beginn des Blogs steht, nicht stimmen konnte.
    Ich weiß bis heute nicht wieso er trotzdem uns Kindern immer wieder erzählt wurde, wieso wir ihn sogar geglaubt haben, selbst mein Bruder hat, nachdem er vor einigen Jahren versuchte etwas mehr Licht in das Leben unseres Vaters zu bringen, nach kurzer Zeit resigniert und gemeint, nach all den Jahren würde man wohl nichts mehr in Erfahrung bringen und so müsste dieser Satz dann doch wohl stimmen.
    Ich habe mich zunächst damit abgefunden, auch wenn ich es nicht wahr haben wollte.
    Erst die Hochzeit mit meiner Frau und unsere Hochzeitsreise nach Vietnam, dazu die Kontaktaufnahme durch meinen Cousin, der sich nach fast 35 Jahren des Schweigens bei mir meldete, haben in mir den Wunsch ausgelöst endlich die Wahrheit zu erfahren.
    Es zu bestätigen oder es endlich widerlegen zu können. Wer war mein Vater wirklich, welches Leben hat er geführt und warum hat er diese und jeden Entscheidung getroffen? Welches Schicksal hat ihn dazu gebracht seinem Leben selbst ein Ende zu setzen?
    Ich habe die wenigen Fäden in die Vergangenheit damals aufgenommen und angefangen sie zu verfolgen, zu entwirren und neu zusammen zu fügen.
    Schnell zeigte sich, dass das Leben meines Vaters ganz anders war als ich bislang ahnte und sich noch mehr von dem unterschied was uns vier Geschwistern immer erzählt wurde.
    Viele Menschen denen ich von den Fortschritten meiner Nachforschungen, den Entdeckungen und meiner Motivation erzählte, haben mir geraten dies aufzuschreiben und die Geschichte zu erzählen.
    Also sitze ich heute vor meinem Laptop und fange an, mit Tränen in den Augen, die Geschichte so zu erzählen wie sie sich zugetragen hat, dort wo ich keine genaueren Erkenntnisse habe, erzähle ich sie so, wie sie für mich am meisten Sinn macht und sie sich zugetragen haben könnte.
    Während ich diese Zeilen schreibe kenne ich das Ende der Geschichte noch nicht, aber das soll mich nicht aufhalten den Anfang aufzuschreiben.
    Ich möchte den Menschen vom Leben meines Vaters erzählen, von seiner Kindheit bis zu seinem Tod. Er soll dabei für mich Gestalt annehmen und zu einem tatsächlichen Menschen werden.
    Die Stationen seines Lebens sind dabei ungewöhnlich und gleichzeitig so passend für die Zeit in der er gelebt hat.
    Demnächst mehr